19.01.2019
Die Nacht, in der die Erde bebte…
Von Zeit zu Zeit kommt es vor, dass wir uns für die Nacht eine Copec (oder z.B. in Argentinien eine YPF) Tankstelle suchen. Meistens passiert das dann, wenn wir bereits mehrere Tage ohne eine richtige Dusche auskommen mussten. Zwar haben wir auch einen Warmwasservorrat an Bord, mit dem zwei Leute den gröbsten Schmutz vom Körper abgewaschen bekommen, aber hin und wieder lockt doch eine ausgiebigere Dusche. Und genau die findet man an den großen Tankstellen entlang der Hauptrouten. Dazu noch meistens ein ganz ordentliches Restaurant, sowie kostenloses WiFi. So finden wir uns am Abend des 19 Januar 2019 an eben einer solchen Copec Tankstelle am nördlichen Rande des netten Städtchens La Serena an der Ruta 5, besser bekannt als Panamericana, ein. Wir kommen gerade vom Agua Negra Pass und haben heute schon über 300 km in den Knochen. Dabei sind wir von fast 5.000 Meter Höhe auf ziemlich genau 0 Meter gekrabbelt. Es war also bereits ein langer Tag. Trotzdem erledigen wir noch schnell den obligatorischen Einkauf in der Stadt und suchen uns in La Serena eine Scotiabank, die derzeit einzige, an der man gebührenfrei Bargeld abheben kann. Dazu müssen wir durch das Zentrum der wirklich netten kleinen Stadt. Es ist Samstag Abend und überall ist etwas los. Die Fußgängerzone ist voll mit schlendernden Menschen, im Stadtpark finden gleich mehrere Aufführungen von z.B. Schülerbands und Tänzern statt. Der nette Straßenrapper, der in jeder Rotphase der Ampel seine improvisierten Texte zum Besten gibt, baut uns und unser blaues „casa rodante“ genau so geschickt in seine Reime ein, wie den muskelbepackten Typen mit seiner Klischeefreundin an der Hand. Es ist also verhältnismäßig spät, als wir auf den Parkplatz der Tankstelle rollen und sogleich mal unsere Umgebung für die Nacht inspizieren. Durch den Verkaufsraum der Tankstelle gelangt man zu den Toiletten und den Duschen, die jeder für 800 Pesos benutzen darf. Alles ist sauber und aufgeräumt, die Regale sind prall gefüllt mit dem, was man aus Deutschland eben auch so kennt. Schokoriegel, Getränkeflaschen, Zeitschriften. Draußen stehen die Verkaufsstände für Fastfood, an dem wir uns unser mehr oder weniger gutes Abendessen einverleiben. Ein älterer Herr sitzt vor dem Kiosk und fragt jeden, der vorbei kommt, nach 100 Pesos, nicht einmal 20 Cent. Dabei ist er stets freundlich und höflich und hat doch recht wenig Erfolg mit seinem Anliegen. Die meisten Reisenden schenken ihm nicht einmal ihre Aufmerksamkeit, sie haben es einfach nur eilig. Nachdem wir unser Abendessen bewältig haben, kurbeln wir seinen Umsatz mit 500 Pesos an und verziehen uns kurz darauf in unser rollendes Eigenheim. Wenn wir schon mal so Bushcamp-untypisch an einem Ort mit allen Annehmlichkeiten stehen, können wir uns auch gleich noch einen (legal) heruntergeladenen Tatort gönnen.
Es geht bereits auf 22:30 Uhr zu, als wir uns langsam fertig machen für die Falle, draußen toben immer noch die üblichen Tankstellenhunde übers Gras. Janina verschwindet im Bad für die Damas und ich geselle mich zu zwei Caballeros, die sich ebenfalls bettfein machen. Bei Janina im Bad für die Damen zicken sich derweil zwei Teenager bzgl. Gebrauch der Dusche an und bringen damit die wartenden Ladies fast zur Weißglut. Bei den Männern geht es da schon friedfertiger zu. Ich stehe zwischen den beiden Anderen und will mir gerade die Zahnbürste in den Mund stecken, als die Spiegel vor mir anfangen zu vibrieren. Ein leichtes Dröhnen ist zu vernehmen und auch die Wände wackeln leicht. Mein erster Gedanke ist, dass da irgendwas draußen bei der Tankstelle explodiert sei und zeitgleich mit den beiden Anderen scheint mir klar zu sein, dass wir besser das Gebäude verlassen sollten. Der eine ist schon auf dem Weg nach draußen während der Andere mir mit der typischen Handgeste den Vortritt an der Tür überlässt…. Ich versuche gerade den Türknauf zu greifen, als sich das Dröhnen in ein ohrenbetäubendes Grollen verwandelt. Die Erde zittert und bebt und dabei bewegt sie sich nicht nur nach vorne und hinten, und rechts und links. Sie schwingt auch auf und ab, was ein kontrolliertes Gehen beinahe unmöglich macht. Das Standbein wird einem weggezogen und den nächsten Schritt kann man nicht mehr kontrolliert setzen, weil der Boden nicht mehr dort ist, wo er eben noch war. Mehr schlecht als recht stolpere ich aus dem Bad und der Verstand hat längst realisiert, dass das hier ein Erdbeben sein muss. Und kein Kleines. Ab hier übernimmt der Instinkt und der sagt: raus ins Freie! Durch den Verkaufsraum der Tankstelle, der eben noch so sauber und aufgeräumt war, versuchen alle nach draußen zu rennen. Alles scheppert und rumort, die Getränke und Schokoriegel fliegen durch die Luft, sie kippen nicht einfach aus den Regalen, sie verteilen sich in der ganzen Tankstelle. Alles vibriert und Gläser zerspringen, das Ganze wird von diesem infernalischen Grollen aus dem Erdboden übertönt. Dieses Geräusch werden wir vermutlich nie wieder vergessen. Auf dem Weg nach draußen stolpert mir, aus dem Damentrakt kommend, Janina über den Weg, die auch gleich „das ist ein Erdbeben“ durch den Lärm ruft, die Zahnbürste hat sie noch in der Hand. Draußen angekommen schüttelt sich die Erdkruste noch immer und es ist schwer sich auf den Beinen zu halten. Frauen schreien, Männer rufen, Autoalarmanlagen schrillen und die ansonsten so friedlichen Hunde bellen laut durch die Nacht. Der Strom ist ausgefallen und alles ist stockfinster. Gestern noch hatte ein fast Vollmond wie ein Suchscheinwerfer am Himmel gestanden und die Konturen der Bergwelt ausgeleuchtet, beinahe als wäre es Tag. Heute versteckt er sich hinter dicken Wolken. Die ersten Handyleuchten flackern durchs Dunkel und machen das Chaos an der Tankstelle sichtbar. Im Verkaufsraum ist nichts mehr wie es war und die Asphaltdecke der Tankstelle hat mehrere fingerdicke Risse. Viele Leute weinen, aber anscheinend wurde niemand schwer verletzt. Durch das Chaos stapfen die beiden Teenager aus der Dusche, der Streit scheint vergessen. Barfuß und nur mit ihren Badetüchern um die Leiber gewickelt suchen sie tränenüberströmt und schluchzend ihre Mutter. Es herrscht ziemliche Panik und allzu leicht könnte man sich davon anstecken lassen. Alles ruft auf spanisch wild durcheinander und es ist schwer, irgendetwas zu verstehen. Ein Sprichwort sagt sinngemäß: „wenn du nicht weißt, was zu tun ist, tu das, was die Einheimischen tun.“ Nur scheinen die selber nicht ganz genau zu wissen, was nun angebracht ist. Janina versucht gerade mit einer der Tankstellenangestellten zu sprechen, die darüber hinaus ganz vergisst, dass sie selber gerade in Tränen ausbrechen wollte, als die ersten Autos mit Vollgas an der Autobahntankstelle vorbei rasen. Ich denke mir noch gerade, dass das unmöglich die ersten Plünderer sein können, die sich mit ihrer Beute abzusetzen versuchen, da benennt jemand aus der Menge das Schreckgespenst, vor dem die ersten Einheimischen flüchten: Tsunami…! Wir stehen nicht nur an einer Tankstelle, die schon an sich bei einem Erdbeben nicht gerade die erste Wahl ist, wir sind auch ziemlich genau auf Meereshöhe. Auch nicht gerade gut. Die Menge löst sich langsam auf, die ersten Autos werden gestartet und verschwinden mit quietschenden Reifen in der Dunkelheit. Auch die LKW Fahrer geben Stoff. Also packen auch wir unsere Sachen zusammen, klappen das Dach ein und machen uns startklar. Leicht neben der Spur putzt Janina immer noch ihre Zähne, Ordnung muss sein. Ein Blick in Richtung Stadt verrät, da gibt’s kein Durchkommen, alles bereits verstopft, Verkehrsinfarkt. Bleibt nur die Flucht in Richtung Norden entlang der Panamericana. Die führt zwar genau am Meer entlang, gewinnt aber recht schnell an Höhe. Eine Wahl haben wir eh nicht, also geben wir dem Buschtaxi die Sporen. Allerdings ist das gar nicht so einfach, denn auf der Fahrbahn liegen überall Gesteinsbrocken von der Größe „Achsbruch“ herum. Die beiden funzelligen Scheinwerfer des Landcruisers sind da keine große Hilfe. Die Straße steigt an bis auf ca. 200 Meter über dem Meer, als wir schließlich die ersten LKW auf dem Pannenstreifen stehen sehen. Sie haben ihre Laster hier geparkt, weil sie sich in dieser Höhe in Sicherheit wähnen, sollte es zu einem Tsunami kommen. Wir reihen uns ein, hinter uns steht ein Overlandermobil aus Brasilien. Die kleine Familie hatte ebenfalls das Erdbeben an der Tanke erlebt. Nach und nach kommen mehr und mehr Autos hier oben an und es entsteht ein gespenstischer Parkplatz, der von blinken Warnleuchten illuminiert wird. Irgendwie ist das ein beklemmendes Gefühl, weiß man doch aus amerikanischen Filmklassikern; die Helden der Saga, die am Ende das Drama überleben, stehen nie im Stau…..
Die ersten Nachrichten aus irgendwelchen Katastrophenschutz-Apps werden ausgetauscht. Es wurde tatsächlich ein Tsunami Warnung ausgesprochen (übrigens gibt es so etwas auch in Deutschland, schaut mal im App-Store nach: NINA). Immer neue Meldungen scheinen herein zu kommen und auch wir versuchen an irgendwelche Infos zu gelangen. Nach etwa einer Stunde löst sich der Flüchtlingsstau auf und die meisten LKW Fahrer setzen die Reise in Richtung Norden fort. Wir beraten uns mit den Brasilianern und steuern ebenfalls weiter die Ruta 5 entlang, auf der Suche nach einem geeigneten Übernachtungsplatz. Hier auf der Autobahn können wir nicht bleiben, da der Verkehr wieder anfängt zu rollen. Es ist bereits weit nach Mitternacht als wir einen Schotterplatz neben der Panamericana finden, auf dem wir zumindest sicher stehen können. Wir diskutieren noch eine Weile draußen stehend die Lage mit den Brasilianern und einer weiteren chilenischen Familie, die kurzerhand hier ihr Zelt aufgestellt hat. Aus Sicherheitsgründen und zum Schutz vor bösen Buben, die eine solche Situation immer auszunutzen versuchen, bilden wir ein kleines Lager. Aus den umliegenden Hügeln sehen wir dabei immer mehr Lichterketten durch die Nacht fahren. Es sind die Scheinwerfer der Autos von Einheimischen, die in Strandnähe wohnen. Sie haben ihr kostbarstes Hab und Gut in die Fahrzeuge gestopft und auf die Dächer geschnallt und verlassen den Küstenstreifen, weil sie dort nicht sicher sind. Ein beklemmendes Gefühl.
Unruhig und immer wieder vom Lärm der vorbei donnernden LKW geweckt, versuchen wir ein wenig Schlaf zu finden. Ziemlich gerädert wachen wir am nächsten Morgen auf. Die Welt sieht aus, als wäre nichts geschehen, abgesehen vom Geröll auf der Fahrbahn. Wir unterhalten uns noch kurz mit der brasilianischen Familie und zum Abschied gibt’s die unter Overlandern fast schon obligatorischen und oftmals so dahin gesagten Abschiedsworte: „Have a save trip“. Heute aber haben sie an Bedeutung gewonnen, zumindest für uns…..
Das Erdbeben vom 19.01.2019 vor der chilenischen Küste hatte sein Epizentrum im Pazifik etwa 15 km südwestlich vor der Stadt Coquimbo. La Serena und Coquimbo sind ähnlich wie Nürnberg und Fürth zwei Nachbarstädte, die nur etwa 10 Kilometer auseinanderliegen. Laut der Information, die wir dazu einholen konnten, hatte das Beben eine Stärke von 6,7 auf der bekannten Richterskala. Gott sei Dank fanden dabei „nur“ zwei Menschen den Tod. Und das aufgrund von Herzinfarkten. Direkt nach dem Erdbeben wurde vom Katastrophenschutz eine Empfehlung zur Evakuierung ausgesprochen, die aber im Laufe der Nacht wieder aufgehoben wurde. Die Menschen der Küstenabschnitte hat das nicht davon abgehalten vor der potenziellen Gefahr zu fliehen. Sie sind gebrannte Kinder, denn erst im September 2015 gab es hier ein Erdbeben der Stärke 8,3. Und auch das schwerste jemals gemessene Erdbeben mit 9,5 hat sich genau vor dieser Küste zugetragen, wo im pazifischen Feuerring gleich mehrere tektonische Platten aufeinander treffen. Damals hatte ein Tsunami verheerende Folgen. Natürlich war uns bei der Reiseplanung klar, dass auf diesem Kontinent eben solche Ereignisse vorkommen können. Trotzdem ist die Wahrscheinlichkeit in einem Land, das etwa 5000 km lang ist, genau an dem Abend in der Stadt zu sein, in der der Boden bebt, doch recht gering. Wäre uns die Statistik beim Lottospielen genau genauso hold, wäre uns das wesentlich lieber.